♡ Wer bestimmt?

Ich habe mal versucht zu zählen, wie oft ich zu meinen Kindern sage "wir müssen" oder "du musst"...aufstehen, jetzt reingehen, zum Abendessen, zur Kita, uns beeilen, uns anziehen, Zähne putzen, wickeln, die Oma anrufen, zur Arbeit gehen, einkaufen, ins Bett gehen, aufräumen, kochen, Haare schneiden, zum Musikkurs,... Wir "müssen" den ganzen Tag offenbar tausend Dinge tun. Ist mein Leben eine Aneinanderreihung von Zwängen, auf die ich keinen Einfluss habe? Das klingt ja furchtbar. Oder spielt mir vielleicht nur die Sprache einen Streich?
Es klingt fast banal, aber ist all das, was ich vorgebe zu "müssen", nicht eigentlich meine freie Entscheidung?
Wenn ich nicht will, dass wir reingehen, gehen wir nicht rein. Wenn ich nicht Zähne putzen will, putzen wir nicht und wenn ich nicht zur Arbeit gehen will, gehe ich nicht. Natürlich haben manche dieser Entscheidungen unangenehme Konsequenzen, die es mir leicht machen, mich dafür zu entscheiden. Ich könnte Löcher in den Zähnen bekommen oder meine Arbeit verlieren. Doch trotzdem "will" ich all diese Sachen aus sehr verschiedenen, meist guten Gründen, tun. Ich muss nicht. Und es tut erstaunlich gut, das auch so zu sagen:
"Ich will, dass wir jetzt nach Hause gehen." "Ich will dich jetzt nicht auf den Arm nehmen." "Ich will dir das nicht kaufen." "Ich will, dass du an der Straße meine Hand nimmst."

Jesper Juul nennt das "persönliche Sprache". Ich übernehme damit die Verantwortung dafür, wie ich mein Leben, unser Leben, gestalte. Und ich zeige meinen Kindern, wer ich bin, was mir wichtig ist. Statt zu sagen "wir müssen", "du darfst nicht", "das geht nicht", "ich kann nicht",..., sage ich einfach "Ich will". Das ist ungewohnt, aber wirkungsvoll. Meine Kinder können erstaunlich leicht akzeptieren, dass ich jetzt nach Hause oder heute kein Eis kaufen will. Sie haben weniger Probleme damit, dass ich sie jetzt nicht hochnehmen "will", als damit, zu verstehen, dass ich sie nicht hochnehmen "kann", obwohl ich das in Wahrheit offensichtlich doch "kann". 
Wenn ich sage "du kannst nicht Karussell fahren, es ist kaputt" und mir etwas später überlege, dass es doch ganz praktisch wäre, Karussell zu fahren, komme ich in Erklärungsnot. Sage ich "Ich will nicht", kann ich einfach sagen "weißt du was, ich habe es mir anders überlegt".
In "Wir müssen jetzt nach Hause" wirkt der Druck des "Müssens" auch auf mich und lässt mich vielleicht nervös, ungeduldig und gestresst reagieren, wenn es mit dem Losgehen nicht so schnell klappt. Mit "Ich will jetzt nach Hause", fällt der äußere Druck weg und es ist leichter für mich, einen Kompromiss zu machen.

Oder es werden auf einmal die Menschen und Dinge sichtbar, die mir wichtig sind: "Ich möchte meine Kollegin nicht warten lassen", "Ich möchte pünktlich sein, Papa hat was Schönes gekocht", "Ich möchte, dass du beim Morgenkreis mitmachen kannst." Das kann erstaunlich überzeugend wirken.
Und es gibt noch einen Nebeneffekt: Ich merke, wenn ich mir selbst in die Tasche lüge und meine, etwas zu "müssen", das ich eigentlich gar nicht machen will. Uns Stress machen zum Beispiel, obwohl es gar keinen wichtigen Grund gibt.

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