♡ Ist mein Kind zu aggressiv? Teil 1

Zusammenfassung*: In diesem Text liest du, warum vieles, was wir als Aggression wahrnehmen, gar keine Aggression ist und wie du "aggressive" Kleinkinder besser verstehen und begleiten kannst.

Aggression_Tobias Loehr_Junge schreitCopyright: Tobias Löhr/www.tobiasloehrfotografie.de

Warum sind Kinder aggressiv?

Kinder tragen ihre Konflikte oft körperlich aus. Das kann man überall beobachten, wo Kinder zusammentreffen. Ob und in welchem Umfang ein Kind aggressives Verhalten zeigt, hängt in hohem Maße von seinem angeborenen Temperament ab. Genau wie Erwachsene sehr unterschiedlich auf Krisen und Herausforderungen reagieren, reagieren auch Kinder individuell verschieden: so zieht sich das eine Kind eher zurück und weint, während das andere angreift und seine Position verteidigt. Hinzu kommen natürliche „Talente“ und „Herausforderungen“. Genau wie dem einen Kochen besonders leicht fällt und der nächste ein besonderes Talent fürs Felsklettern hat, fällt es manchen Kindern von Natur aus eben leichter oder schwerer, Konflikte zu lösen und die Gefühle anderer Menschen zu entschlüsseln. Es gibt beinahe unzählige Faktoren, die aggressives Verhalten (gesunder Kinder) beeinflussen. Die meisten haben weder etwas mit „falscher“ oder „richtiger“ Erziehung, noch mit seelischer Not des Kindes zu tun.

Was ist überhaupt "aggressives Verhalten"?

Nicht jede Art von körperlichem „Hauen“, „Beißen“ oder auch „Treten“ und „Schubsen“ hat etwas mit Aggression zu tun. Man beobachte dazu einfach mal unser Verhalten unter Erwachsenen: Besonders bei jungen Paaren oder guten Freunden kann man z.B. eine Form spielerischer „Prügelei“ beobachten, die durchaus liebevoll ist. Da wird sich spielerisch auf die Finger gehauen, in den Hintern getreten und in die Seite geboxt.
Wenn Oma sehr verliebt in den kleinen Säugling ist, will sie ihn am liebsten „aufessen“. Und unter Kollegen schlägt man sich kameradschaftlich auf die Schulter. Ein „Schubs“ ist oft völlig angebracht, zum Beispiel beim Schlitten fahren. 
Ob ich etwas also als Aggression wahrnehme, hat viel mit meiner Interpretation der Situation zu tun. Ein Verhalten wird erst dann zur „Aggression“, wenn ich es als feindselig bewerte.

Kinder müssen diese ganzen gesellschaftlichen „Codes“ erst nach und nach lernen. Wie doll darf ich „beißen“, damit es noch liebevoll ist? In welchen Situationen darf ich „schubsen“ und es ist hilfreich? In welchen Situationen kann ich jemanden „hauen“ und es heißt „Hallo“? Wann darf ich „treten“ und der andere lacht? Mal ganz davon abgesehen, dass für Erwachsene oft andere Regeln gelten als für Kinder: wieso dürfen die Erwachsenen auf der Rutsche Kinder „anschubsen“ und ich nicht? Wieso dürfen sie das Baby „beißen“ und ich nicht? Wieso darf Papa mich an der Hand durch die Gegend zerren, aber wenn ich das mit meiner kleinen Schwester mache, werde ich ausgeschimpft? Wieso darf Mama Papa „schütteln“ und sie lachen dabei und wenn ich das mit meinem Freund Felix mache, fängt der an zu weinen?

Auch die „Dosierung“ der „Gewalt“ spielt eine große Rolle. "Ein bisschen" zwicken ist eine liebevolle Geste – so fest kneifen, dass beim anderen Abdrücke entstehen, scheint eher feindselig. Es macht einen Unterschied, ob ich kurze oder lange Fingernägel, ein Kissen oder einen Stein in der Hand habe...

Die richtige Dosis müssen Kinder erst durch unzählige Interaktionen herausfinden. Was uns im Alltag banal einfach vorkommt, ist tatsächlich eine geistige und motorische Meisterleistung, die selbst Erwachsenen manchmal schwer fällt, z.B. wenn wir im Spiel oder beim Handwerken unsere Kraft einfach „unterschätzen“.

Tatsächlich kann ich in manchen Fällen das Hauen "abstellen", indem ich eindrucksvoll genug drohe und strafe. Strafen bewirkt, dass mein Kind die Strafe zu vermeiden sucht. Bloß lässt sich Strafe immer auf 2 Arten vermeiden. Einmal die, die sich die Eltern wünschen: "das Kind stellt sein Verhalten ein". Aber dann gibt es auch noch die, die gern übersehen wird: "das Kind lernt bessere Strategien, sich nicht erwischen zu lassen".

Eigentlich will das ja auch niemand erreichen. Wir wollen alle keine stumpfen Befehlsempfänger heranziehen, sondern wünschen uns, dass unsere Kinder aus echtem Mitgefühl anderen nicht weh tun. Aber dazu brauche ich vor allem eins: starke Nerven und Geduld. Mein Kind muss erst ein gutes Verständnis für seine eigene Kraft entwickeln und seine Wirkungen einschätzen lernen. Es muss lernen, die Gefühle anderer zu identifizieren und im Spiel darauf zu achten. Das ist ein Prozess, den ich unterstützen, aber nicht abkürzen kann.

Hier sind 10 Ideen, wie du dein Kind unterstützen kannst:


1. Keine kategorischen Verbote: Gegen Verbote lehnen Kinder sich in ihrem natürlichen Entwicklungsdrang gern auf. Insbesondere, wenn sie immer wieder im Spiel mit anderen Kindern und Erwachsenen beobachten können, dass es sehr wohl Möglichkeiten gibt, in denen Beißen ok ist und Spaß macht. Wenn ich meinem Kind also das Beißen/Hauen/Treten, etc. kategorisch verbiete, wird es höchstwahrscheinlich trotzdem beißen. Es braucht eine sinnvolle Hilfestellung, kein Verbot.

2. Empathie - Gefühlsausdrücke erkennen: „Schau mal, das Mädchen in dem Buch schaut so komisch. Was meinst du, wie fühlt sie sich?“ Anhand von Büchern und Alltagssituationen kann ich mit meinem Kind üben, Gesichtsausdrücke richtig zu interpretieren. So lernt es, Gefühle zu erkennen und einzuordnen. 

3. Empathie - im Spiel auf andere achten: „Hein, ich sehe, du findest das gerade lustig, aber sieh mal genau hin. Findet der Emil das auch noch lustig? Wenn du in sein Gesicht schaust, kannst du das herausfinden. Was meinst du? Hat er noch Spaß?“ Mein Kind lernt so, auf die Gefühle der anderen zu achten. Darauf aufzupassen, dass das Spiel allen Mitspielern Spaß macht. Und zu erkennen, wann eine Grenze überschritten ist.

4. Meine Kraft einschätzen lernen: „Wie stark“ ich beiße, haue oder trete ist sehr entscheidend dafür, ob eine Handlung als spielerisch oder feindselig eingeschätzt wird. Um hier eine gute Dosierung zu finden, muss ich aber meine Kraft richtig einschätzen. Bei Kindern verändert sich die Körperkraft im Wachstum ständig. Was gestern noch ein liebevoller Schubs war, schmeißt heute die beste Freundin rückwärts auf den Asphalt. Um ihre Kraft gut einschätzen zu lernen, macht es viel Sinn, dass sich Kinder raufen und in spielerischen Kämpfen immer wieder messen dürfen. So lernen sie mit der Zeit, einzuschätzen, was noch Spaß macht und was nicht mehr. Was weh tut und wo es tatsächlich gefährlich wird. Es macht aber Sinn, „Raufereien“ zwischen Gleichaltrigen dem Alter entsprechend eng zu begleiten. Ich halte mich dezent zurück, aber greife ein BEVOR die Situation eskaliert. Und ich gebe konkrete Hilfestellungen: „Schau mal in Heins Gesicht, macht es ihm noch Spaß?“ oder „Fass mal lieber hier am Hosenbund an, nicht am T-Shirt ziehen“ oder „Dieser Bereich ist sehr empfindlich, fass lieber hier am Arm an, da tut es nicht weh.“

Auch beim spielerischen Raufen mit Papa oder Mama kann man wunderbar herausfinden, ab wann etwas weh tut oder gefährlich wird: „Beiß mal vorsichtig hier in meinen Finger. Ja, so ist es noch ok. Fester. Ah, jetzt tut es ein bisschen weh. Jetzt ist es zu doll…“ Durch konkrete Rückmeldung ohne Vorwürfe und Drama lernt mein Kind schneller, seine Kraft einzuschätzen und auf die feinen Nuancen zu achten. Für ältere Kinder sind auch (Kampf-) Sportarten hilfreich.

5. Materialien und Effekte beachten: Der Stein ist hart, das Kissen ist weich. Der Stift ist spitz und das Messer ist scharf. Mit einem Schaumstoffschwert darf man sich duellieren, mit Stöcken eher nicht. Schwingt mein Kind z.B. einen Stock durch die Luft, nehme ich es beiseite und wir sprechen darüber, dass der Stock hart ist, wir fühlen die Oberfläche und schauen uns die Spitze genau an. Wir sprechen darüber, dass ich das Ende des Stockes genau beobachten muss, wenn ich den Stock bewege, damit ich niemanden aus Versehen damit treffe. Wir können auch anschauen, was passiert, wenn der Stock bricht. Vielleicht entstehen Splitter und die sind sehr spitz und scharf? Genau hinschauen. Innehalten und sich achtsam mit den Gegenständen beschäftigen. Ein Stein ist hart und schwer. Er kann spitz oder rund, rau oder glatt sein. Was passiert, wenn ich ihn werfe? Worauf muss ich aufpassen? Das Tuch ist leicht, weich und transparent, oder fest und kratzig. Das Licht färbt sich, wenn ich hindurch schaue. Während mein Kind beobachtet, lernt es die kleinen, aber wichtigen Unterschiede wahrzunehmen. Wer die Dinge mit Achtsamkeit betrachtet, lernt sie zu schätzen. Und sie mit Vorsicht und Umsicht zu verwenden. Gleichzeitig hilft Achtsamkeit gegen Reizüberflutung und Überforderung. Zu spüren, welche Freude und Macht im reinen „Da-Sein“ steckt, stärkt das Selbstwertgefühl und beruhigt Eltern und Kind.

6. Vorbild sein: Beim Fluchen fällt es den meisten Eltern noch auf. „Oh Mist, ich hab schon wieder vor’m Kind Scheiße gesagt...“ Aber auch in meinen Handlungen bin ich Vorbild für mein Kind. Und ich muss dabei einkalkulieren, dass es motorisch und intellektuell mit mir natürlich noch nicht mithalten kann. Wenn ich mit Joghurtbechern jongliere, kann es sein, dass mein Kind aufschnappt „Aha, Joghurtbecher wirft man also in die Luft“. Wenn ich mit sehr kleinen Kindern „Fangen“ spiele, ist die Gefahr größer, dass sie auch juchzend auf die Straße laufen, wenn ich hinter ihnen hersprinte. Darüber nachzudenken, was ich vorlebe und was mein Kind vielleicht daraus macht, kann mir viele Kopfschmerzen ersparen.

7. Auf Stimme und Körpersprache achten: Ob ein Erwachsener gerade Spaß macht, oder gleich explodiert, ist für (Klein)Kinder gar nicht so leicht zu entschlüsseln. Für die Unterscheidung zwischen Spiel und Ernst, zwischen „das war toll, mach weiter!“ und „das tut weh, lass das unbedingt sein!“ ist daher eine klare und ausdrucksstarke Körpersprache enorm hilfreich. Wenn die Sätze „Möchtest du ein Stück Apfel?“ und „Stop! Ich will das nicht!“ komplett gleich klingen, sind Missverständnisse vorprogrammiert.  Dabei meint "klar und ausdrucksstark“ nicht, laut und böse zu werden oder zu schimpfen. Denn wenn ich zu dominant und furchteinflößend wirke, kann das kindliche Gehirn in den „Notfallmodus“ schalten: Das Kind starrt in die Luft, fängt an zu lachen, läuft weg oder haut gleich noch einmal. Eine klare und ausdrucksstarke Körpersprache beinhaltet zum Beispiel, eine „strenge, ernste, tiefere“ und eine „motivierende, positive, höhere“ Stimmlage zu verwenden. Und diese verschiedenen "Tonlagen" zu nutzen, um meine Botschaften verständlich zu machen. Es bedeutet, von meinem Platz aufzustehen und zu meinem Kind hinzugehen, statt quer durch den Raum zu rufen. Und mit meinem Kind auf Augenhöhe zu gehen und Blickkontakt aufzunehmen, statt mit seinem Hinterkopf zu sprechen. Kleine Details machen einen großen Unterschied.

8. Füttere die Lösung, nicht das Problem: Die große Schwester würgt den Baby-Bruder? Statt zu schimpfen, lenke ich ihre Energie sanft in eine positive Richtung: „Oh, du willst deinen Bruder umarmen! Das ist so lieb von dir! Vorsicht, bitte sei ganz zart!“ Gleichzeitig nehme ich ihre Arme vorsichtig vom Hals des Brüderchens und helfe ihr, das Baby etwas sanfter zu umarmen, oder ihm etwas zum spielen zu bringen. Mein Dreijähriger spuckt? Statt davon auszugehen, dass er mich ärgern will, frage ich: „Oh, hast du etwas im Mund, das du loswerden willst? Hier ist ein Taschentuch. Bitte spuck da hinein.“ Mein Teenager war bei einer Freundin, ohne mir Bescheid zu sagen, dass deren Eltern nicht da sind? Statt zu unterstellen, „Was hast du dir dabei gedacht? Du hast mich angelogen!“, atme ich ein paar Mal tief durch und reagiere ERSTAUNT, statt verärgert: „Was war denn da los? Hast du vergessen, mir Bescheid zu sagen?“ Wenn ich schimpfe, fokussiere ich mich auf das PROBLEM und mache es damit groß und wichtig. Wirksamer ist es, die Aufmerksamkeit stattdessen auf eine mögliche LÖSUNG der Situation zu lenken. Das erzeugt weniger Drama und Widerstand und ermöglicht meinem Kind, schneller bessere Strategien zu lernen. Am wichtigsten aber ist: es stärkt sein Selbstwertgefühl, indem es ihm zeigt: Ich sehe die beste Version von dir! Auch und gerade wenn du Fehler machst.


9. Kleine Inseln der Freundlichkeit: Freundliches und rücksichtsvolles Verhalten lernt mein Kind am besten dadurch, dass es sich immer wieder selbst als freundlich und hilfreich erleben darf. Das Gehirn lernt durch Wiederholung. Was man viel macht, fällt einem leicht. Besonders gut funktioniert das mit Geschwistern: Je mehr ich meinen Kindern Gelegenheit gebe, sich selbst und den anderen als hilfreich und freundlich zu erleben, desto positiver empfinden sie ihre Beziehung zueinander. Es entsteht ein positiver Dominoeffekt. Sehr viele Dinge erledige ich aus Gewohnheit und/oder weil es schneller geht, FÜR meine Kinder. Es ist hilfreich, sich immer mal wieder zurück zu nehmen und zu überlegen, ob die Kinder das auch FÜREINANDER tun könnten. Im Alltag lassen sich so mit etwas Kreativität hunderte von Situationen schaffen, in denen sie sich gegenseitig kleine Gefallen tun können: „Holst du dem Hein einen Löffel aus der Schublade?“ „Magst du Heidi ihren Rucksack reichen?“ „Willst du Erna mal zeigen, wie man das wieder repariert?“

10. Implizite Schuldzuweisungen vermeiden: Statt zu sagen “Ich will nicht, dass du haust.”, sage ich “Ich will nicht, dass du Hein weh tust UND ich will auch nicht, dass Hein oder irgendjemand anderes DIR weh tut!” Indem ich die Gegenseitigkeit der Regel betone, versteht mein Kind leichter, dass es nicht darum geht, ihm die Schuld zuzuweisen, sondern um die Sicherheit ALLER Kinder in der Gemeinschaft. Dass es nicht um STRAFE geht, sondern um SCHUTZ. Und dass es selbst unter dem gleichen Schutz steht, wie das Kind, das gerade angegriffen wurde. Natürlich ist hier auch meine innere Haltung ganz wichtig: Wenn ich dem Kind innerlich DOCH die Schuld zuweise, wird es das mit großer Wahrscheinlichkeit merken und darauf reagieren. Meine innere Haltung ist IMMER lauter als alles, was ich sage.
Und Vorsicht: zu sagen “MAN darf nicht hauen” ist NICHT das Gleiche. Diese Aussage ist viel zu wenig KONKRET, um von kleineren Kindern wirklich verstanden zu werden (auch wenn sie es natürlich wunderbar nachplappern können) und zu abstrakt, um für ältere Kinder BEDEUTSAM zu sein (sie sehen schließlich täglich, dass die Aussage schlicht FALSCH ist).

Teil 2 folgt, für Updates hier anmelden!


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Zum Weiterlesen:
Gehirnfutter für Eltern: Erziehung ohne Strafe - Teil 3
Gehirnfutter für Eltern: Das Gehirn versteht kein Nein
Gehirnfutter für Eltern: Bin ich zu inkonsequent?
Gehirnfutter für Eltern: Wie wir unsere Kinder schützen
Gehirnfutter für Eltern: Das hat mir auch nicht geschadet

*In diesem Artikel wurden unter anderem Ideen aus diesen Büchern verarbeitet:

Jesper Juul: "Aggression"
Daniel J. Siegel: "Disziplin ohne Drama"
Daniel J. Siegel: "Achtsame Kommunikation mit Kindern"
Laura Markham: "Peaceful Parent - Happy Siblings"
Jesper Juul: "Dein kompetentes Kind"



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Bilder: Tobias Löhr/www.tobiasloehrfotografie.de